Kurzgeschichten: Mittsommernacht/Verfall

Grundgütiger, diesen Text habe ich vor mehr als zwei Jahren im Rahmen einer Kurzgeschichtengruppe geschrieben. Ich könnte ihn noch einmal überarbeiten, aber ich will ihn auch nicht verfälschen. Darum – hier so, wie ich ihn schrieb.

Du sagst nicht, was du weißt, und ich weiß nicht, was ich sage. Nebeneinander sitzen wir auf der Treppe eines Mietshauses. Derweil stiere ich auf die – geschundener Haut gleichend hängenden – Fetzen an der Plakatwand gegenüber. Sie waren die Herolde der Sehnsucht gewesen, versprachen – sofern wir mit dem Rauchen begonnen hätten – endlose Freiheit, oder priesen Abende, die nichts weiter waren als der verzweifelte Versuch, die innere Leere mit noch mehr Leere zu füllen.

Heute erstrahlen sie noch einmal, diese Boten der Suche, gestorben an ihrer Aufgabe, vergessen, übersehen – da nicht mehr von Interesse, istdochlängstvorbei, aus der Zeit gefallen, „was soll man damit noch anfangen“, war doch schon, Sie wissen – heute strahlen sie länger als sie es die letzten 364 oder 365 Tage getan haben. (Vielleicht war Schaltjahr?)

Sie scheinen blasser, mehr ein anachronistischer Schein; das Schwarz gleicht nunmehr einer von der Sonne ausgeblichenen Plastikflasche. Und heute ist er, dieser längste Tag des Jahres. Herab steigt der Laternenanzünder, er wird jeden Tag ein bisschen eher kommen, bis die Wintesonnenwende ihn wieder beruhigt und er immer gemächlicher die Nacht begrüßt …

Diese Fetzen geben ein sonderbares Bild ab; in ihren gespenstisch düsteren Schatten bergen sie Fragen, lassen Sätze unbeantwortet, man müsste aufstehen, hinübergehen, die Papierstreifen anheben, damit sie offenbaren, sie bekämpfen, erwecken, nur um zu erfahren, was möglicherweise nichts als überflüssig für das Hier und Jetzt ist. Ein gemächlich vorbeirollender Kastenwagen mit rostigen Dellen, offenen Wunden, gerissenen Stellen am Leib, dieser Wagen stört das Bild, unterbindet die Sicht auf die Plakatwand. Seine Zukunft ist gesteuert; gelbliche, alte Augen, behangen von einer Gardine des „Ich habe alles gesehen“s dienen ihm als Wegweiser, von müder Menschenhand wird er ihn die vermeintlich rechte Bahn getrieben, und ich frage mich, wer wären wir, wären wir der Laster, dessen Augen grell strahlen werden in der Nacht, oder wären wir der Steuernde, Wissende, der sich der Schönheit der Welt verschließt?

Als ich mich dieses Gedankens löse, setzen die Geräusche der Stadt wieder ein; das Rauschen der Autos, lachende Kinder, ein brüllender Mann (in einer fremden Sprache seine Frau zurechtweisend), das Bellen eines Hundes, ich meine, deinen Atem zu hören, alles zu hören, das Knistern der Alufolie, während die Junkies sie zurecht falten, das Schneiden der Messer in den Häusern, die Musik, die jemandem im Kopf schwirrt. Der längste Tag, die kürzeste Nacht; Mittsommer. Und nun sitzt du dort, neben mir, ein chemisch generierter, degenerierter Nosferatu, Max Schreck der Gegenwart, mit deinen leeren, verlorenen Augen, das Glück, das du fandest, hast du eingesteckt, verstaut in einer der weiten Taschen deiner bei jeder Bewegung kühl knisternden Jacke, und du bist zu faul, danach zu suchen.